26. November 2022

Wie fest ist fest?

Ein paar Gedanken zum sogenannten Fest-Engagement

Im Festengagement, oder „Wie fest ist fest?“

The English version is here

Als ich mein zweites Fest-Engagement antrat, war ich meiner Sache sehr sicher und fühlte mich ziemlich unbesiegbar. Denn in meinem ersten Engagement war alles bestens gelaufen und ich gehörte zu den Stars des Hauses, zumindest empfand ich das so. Dann wurde ich während der ersten Probenphase an meinem neuen Haus krank: während einer Probe hatte ich einen Husten unterdrückt, weil ich als Bühnenfigur schon tot war und keinen Lacher erzeugen wollte. Als sich der Husten dann doch seinen Weg nach draußen bahnte, war der Druck so groß, dass im rechten Stimmband ein Blutgefäß platzte. Drei Wochen Stimmruhe, Proben mit Mundbewegungen, aber ohne Ton, dann langsames Wieder-Einsteigen, alles gut, dann platzte das Gefäß wieder – das On-Off-On-Off zog sich durch die gesamte Spielzeit und war super belastend für mich und die Fachkollegin, die mehr als einmal kurzfristig übernehmen musste. Im kommenden Oktober bekam ich den berühmten Brief mit einem Termin beim Intendanten. Erst da dämmerte mir, dass ich wohl doch nicht unbesiegbar war. Ein Anruf beim Studienleiter bestätigte meine Befürchtungen: ich würde aus künstlerischen Gründen nicht verlängert werden. Mittlerweile war das Blutgefäß so oft geplatzt, dass mein begleitender Arzt und ich doch eine Operation in Betracht zogen.

Bei der Nichtverlängerungs-Bekanntgabe ging es mir wirklich nicht gut: ich war Alleinverdienerin, hatte ein kleines Kind, meine Stimme funktionierte nicht, und ich wusste nicht, wie es nach der OP weitergehen würde.

Ich hatte einen guten Operateur und großes Glück:
Nach der OP war bald alles wieder normal, ich konnte noch ein paar Monate beweisen, dass ich doch singen konnte und nicht hysterisch war, und in der Spielzeit drauf hatte ich 5 Produktionen als Gast am selben Haus und habe lange Jahre immer wieder dort gesungen.

Die Erkenntnis aus dieser Zeit war:
Der Unterschied zwischen fest und frei ist: im Festengagement hangelt man sich von Verlängerung zu Verlängerung und zittert auf jeden Oktober, als Freischaffende wusste ich von vorneherein, dass ich mich bewegen musste, damit meins und das Überleben meiner Familie gesichert war.

Auch wer fest ist, ist vielleicht bald „frei“.
Im Nachhinein betrachte ich diese Zeit als ein großes Glück: ich wäre ohne diesen „Arschtritt“ in Basel geblieben – mir gefiel (und gefällt immer noch) die Stadt, das Theater hat eine wunderbar „menschliche“ Größe, das Publikum liebte uns, es gab interessante Produktionen mit tollen Menschen – warum sollte man sich freiwillig vor dort wegbewegen?! Dann wäre ich vielleicht beim nächsten Intendantenwechel „geflogen“ und hätte mehr Mühe gehabt, mir eine freischaffende Laufbahn aufzubauen.

Es ist wichtig sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass das Festengagement bald vorbei sein kann. Nur wenige von uns haben lückenlose „feste“ Engagements als Solist:innen. So wie die Strukturen heute sind, kann bei jedem Leitungswechsel auch die Sängerriege wechseln, und nach jedem Vertragsablauf kann einen Nichtverlängerung ausgesprochen werden. Es ist ein wenig schwieriger geworden, willkürlich Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken, aber wer möchte schon unter einer Leitung arbeiten, die einen nicht mag oder unterstützt?

Fest ist also gar nicht fest!
Fest ist nur momentan fest, wir sitzen immer auf dem Schleudersitz. Um die positive Seite zu sehen: die Tatsache, dass ab und zu Menschen ein Theater verlassen (müssen) und weiterziehen, bedeutet auch, dass andere Menschen eine Chance bekommen können, dort zu arbeiten. Das Karussell dreht sich ständig weiter.

Was tun, während du fest bist?
Versuche zu gastieren, auch wenn du im Festengagement bist! Denn wenn du nach 5-10 Jahren wieder auf dem freien Markt auftauchst und außer an „deinem“ Haus nirgendwo gesungen hast, kennt dich niemand, und es ist dann auch für die beste Agentur schwierig dich zu vermitteln.

Pflege deine Stimme, geh regelmäßig zum Unterricht / zur Kontrolle, pass auf deine Technik auf und bewahre deine Qualität.

Halte Kontakt mit deinen Konzert-Dirigent:innen. Wahrscheinlich konntest du das eine oder andere nicht annehmen wegen Probe oder Vorstellung am Theater; zeige, dass du noch Interesse an einer Zusammenarbeit hast.

Zeige, dass du dich weiterentwickelst: Check während des Festengagements dein Repertoire: „stimmen“ die Rollen noch? Könntest du einen Schritt weiter gehen? Sprich mit der Operndirektion deines Hauses regelmäßig über deine Entwicklung. Regelmäßig heißt mindestens einmal im Jahr.

Wenn du dir nicht sicher bist, ob das angepeilte Repertoire richtig ist, arbeite es zuerst mit Personen deines Vertrauens außerhalb des eigenen Opernhauses – es muss ja nicht gleich jeder wissen, wenn du Wotan ausprobierst und dann entscheidest, dass das doch noch nichts ist.

Mit anderen Worten: Schlaf nicht ein!

Wenn du die Nichtverlängerung bekommst:
Durchatmen! Wichtig: das Theater muss offiziell die Nichtverlängerung aussprechen, damit du Arbeitslosengeld beziehen kannst. Das gilt auch, wenn du selber den Vertrag beenden möchtest. Du hast jetzt von November bis Juli Zeit etwas anderes zu suchen / dich um Gastspiele zu kümmern. Wenn es nicht klappt bis Juli, hast du, zumindest in Deutschland ein Jahr Arbeitslosengeld, das ist nicht üppig, aber du kannst überleben. Es besteht also kein Grund zur Panik. Von der Kündigung bis zum Ende des AL1 hast du 19-20 Monate Zeit dich neu aufzustellen.

Wie lange soll man „fest“ bleiben?

Das ist eine schwierige Frage, vor allem, nachdem uns die Pandemie gezeigt hat, dass die freischaffenden Künstler:innen gar keine oder nur sehr reduzierte Kompensationen für ausgefallene Gagen bekamen, und das oft nur mit anwaltlicher Hilfe. In dieser Zeit waren die Festangestellten die Queens und Kings der Künstlerschar.

Es gibt keine festen Regeln, nur Erfahrungswerte:
Grob gesagt: wenn Du an einem kleinen Haus anfängst, kannst du nach (spätestens) 3 Jahren anfangen, an größeren Häusern vorzusingen und die nächste Karrierestufe einleiten. So kann es weitergehen, bis du an einem großen Haus angekommen bist und dort bleiben möchtest. ABER wir müssen immer im Hinterkopf behalten, dass nur wenige es schaffen, eine Unkündbarkeit zu erreichen. Sie tritt nach 14 Jahren am selben Haus ein. Zur eigenen Einschätzung kannst du immer mal wieder überlegen, welches „Produkt“ du für das jeweilige Haus darstellst: bist du jemand, die/der in vielen Produktionen eingesetzt werden kann oder bist du eher ein „Luxusprodukt“ für einige wenige Gelegenheiten? Wie sehr braucht dich dein Haus?

Wenn du und das Haus entschieden habt, dass du bleibst, gibt es mancherlei Arten der Verhandlung, z.B.

  • Eine höhere Monatsgage
  • Weniger Vorstellungen in der Spielzeit
  • Mehr Gastierurlaub

Lass dich von erfahrenen Kolleg:innen am Haus beraten und besprich dich mit deiner Agentur.

Soll ich fest oder frei arbeiten?

In einem Ensemble zu sein ist wunderbar: du hast eine Kollegenfamilie, das Publikum kennt dich, wenn du absagen musst, läuft deine Gage trotzdem weiter. Aber natürlich hast du nicht immer Zeit zum Gastieren, du kannst Konzerte nicht annehmen, weil du Vorstellung hast…

Frei sein kann aufregender sein als fest: Als Freischaffende/r ist deine Abendgage höher, aber du musst sie weiter strecken, deine Kolleg:innen sind immer wieder neu und das Publikum kennt dich erst einmal nicht. Oft kommen Anfragen parallel, und dann gibt es wieder Zeiten, in denen du nichts zu tun hast. Singst du nicht, verdienst du nichts, bitter im Krankheitsfall.

Es geht, wie bei den meisten Dingen im Leben, darum herauszufinden, was DU möchtest und was DIR entspricht. Und dann gilt, was Eichendorff und Schumann so wunderbar herausstellen:

„Hüte dich, sei wach und munter!“

Alles Gute und bis bald,

Hedwig

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hedwig fassbender
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