Aussingen oder Markieren? Training oder Abnutzung?
Als Sänger:in haben wir normalerweise um 10:00 Uhr Probe und dann wieder um 17 oder 18:00 Uhr. Also stehen wir um 6:30 Uhr auf, gehen joggen, essen ein gesundes Frühstück, duschen, singen uns in Ruhe ein, fahren zeitig los und sind gegen 9:40 im Opernhaus, trinken noch einen kleinen Kaffee/Tee in der Kantine und stehen um kurz vor 10:00 fit wie ein Turnschuh auf der Probe… Schön wär’s!
Das kann durchaus mal so sein, aber wie oft kommt morgens das Leben dazwischen, vor allem, wenn wir Kinder zu versorgen haben? Wir singen uns im Auto ein oder brummeln auf dem Fahrrad oder in der Bahn vor uns hin und kommen mehr schlecht als recht eingesungen auf der Probe an. Dann gleich auszusingen ist nicht klug! Aber, keine Panik, es gibt die Möglichkeit zu MARKIEREN. Wer intelligent markiert, kann gutes Arbeiten für alle ermöglichen und nach der Pause aussingen, wenn der Körper warmgeworden ist.
In den Ländern, in denen die Probenzeiten später liegen, ist das Sängerleben definitiv angenehmer, was das angeht!
Wie funktioniert Markieren?
Es gibt verschiedene Arten zu markieren:
– auf Originaltonhöhe mit halber Stimme singen
– angenehm liegende Passagen aussingen und hohe Stellen oktavieren
– ein Mix aus beidem: angenehm liegende Passagen mit halber Stimme singen und hohe Passagen oktavieren
Immer gilt: Markieren ist nur dann ein professionelles Mittel, wenn die szenische Spannung gehalten wird und der Text für die Kolleg:innen auf der Bühne erkennbar ist.
Szenische Proben – die Trainingsstrecke
Die 6 -8 (!) Wochen der szenischen Proben bis zur Premiere sind eine Trainingsstrecke, die es klug zu nutzen gilt. Natürlich haben wir seit langem zu Hause die Partie vorbereitet, vorher in den musikalischen Proben ausgesungen, aber bei der szenischen Arbeit kommt oft wieder technische Unordnung ins Singen. Ich denke, es ist klug, zuerst markierend „die Gliedmaßen zu ordnen“ und dann erst auszusingen. Sich gleichzeitig auf alles zu konzentrieren, ist schlicht unmöglich. Man sollte sich die Zeit nehmen eine Szene in Ruhe zu entwickeln, bis sie sitzt und erst dann die volle Stimme einsetzen, wenn Hände und Füße wissen, warum sie was wann tun. Auch für die Regie und die Kolleg:innen ist es oft entspannter, wenn nicht alle immer aussingen.
Was sind die Regeln zum Aussingen?
Es gibt keine, aber es gibt eine Beobachtung:
Wer nie aussingt, egal wie groß die Rolle ist, hat Angst vor der Partie und schafft vielleicht die Premiere nicht…
Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich eine Partie schon öfter gesungen habe oder ob es eine neue Rolle ist, ob die Partie klein (bitte möglichst nicht markieren), mittel (nur manchmal markieren) oder groß/riesig (bitte klug markieren) ist. Eine kleine Partie kannst du, wenn du gesund bist, immer aussingen, bei größeren Sachen und „Monsterpartien“ bei Wagner, Verdi, Strauss, Janáček etc. sieht das schon anders aus.
Für diese Partien fängt man so früh wie möglich mit der Vorbereitung an, damit die Rolle sich setzen kann. Anderthalb bis 2 Jahre sind normal!
Für eine neue Rolle sollten wir die szenische Trainingszeit nützen, um die Partie in den Körper zu bekommen – das geht nun mal nur mit Aussingen. Sobald die Szene Sinn macht, sing aus und spüre nach, wie sich das anfühlt, besonders bei körperlich anspruchsvollen Inszenierungen. Wenn nicht gleich alles klappt, nicht verzagen, sondern morgen wieder versuchen. Und wenn sich nach ein paar Tagen herausstellt, dass eine technisch schwere Stelle in der von der Regie angedachten Weise nicht funktioniert, kann man die Regisseurin oder den Regisseur um Hilfe bitten und Alternativen ausdenken. Das geht aber nur, wenn du die Sachen aussingend wenigstens versucht hast.
Sobald die Proben auf der Hauptbühne angekommen sind, ermöglicht uns Aussingen, ein Gefühl für den Original-Raum zu entwickeln – da muss man dann tatsächlich früh aufstehen, den Körper aufwärmen und sich einsingen vor der Probe.
Aussingen MUSS man in Chor-Opern die 2 Sätze, bevor der Chor einsetzt, damit die Kolleg:innen ihre Stichworte hören können und man keinen Ärger bekommt:)
Aussingen in den Endproben
Das ist ein anderes Kapitel (ich habe darüber einen eigenen Beitrag geschrieben, der link steht am Ende dieses Artikels).
In Bühnenorchesterproben ist nicht aussingen wenig hilfreich – weder für dich, noch für die Dirigentin oder den Dirigenten noch für die Orchester-Kolleg:innen im Graben. Die können nur gut auf dich reagieren, wenn sie dich gehört haben, die musikalische Leitung muss die Balance mit dem Orchester testen können. Hast du eine Partie schon oft gesungen und weißt, dass du sie immer noch gut beherrscht, kannst du schwere Stellen markieren/oktavieren, um Kräfte zu sparen.
Mit 2 Bühnenorchesterproben am Tag wird es jedoch bei anspruchsvollen Rollen schwierig, sich gut einzuteilen, weil die Zeit zwischen den Proben bei Riesenpartien einfach nicht reicht, um wieder ganz fit zu werden und es rasch passieren kann, dass Müdigkeit zu Müdigkeit kommt und sich potenziert. Ich empfehle einen Aussingplan für die letzten 10 Tage vor der Premiere zu machen und ihn dann auch einzuhalten. Die Klavierhauptprobe z.B. muss man nicht aussingen (auch wenn es Spaß macht, wenn zum ersten Mal Kostüme und Licht im Original sind). Bei 4 oder 6 BOs innerhalb von 2-3 Tagen kann man teilweise markieren oder eine komplette BO nicht aussingen. Gibt es nicht genügend Zeit zwischen Haupt-, Generalprobe und Premiere, kann es auch einmal nötig sein die GP ganz oder teilweise zu markieren – es ist alles besser, als am Premierentag wegen Müdigkeit unter Niveau zu singen (ist mir schon passiert, war doof!)!
Geld und Presse gibt’s nicht für die GP, sondern erst zur Premiere!
Dafür muss man sich aber einen Plan gemacht haben UND IHN DANN AUCH EINHALTEN!
Remember: auch eine Generalprobe ist eine Probe, selbst wenn Publikum drinsitzt! Bei der Premiere müde zu sein zahlt sich niemals aus. Man muss der musikalischen Leitung und möglichst auch der Intendanz Bescheid sagen, wenn es wirklich notwendig ist sich zu schonen. Bei Monster-Partien sollte Verständnis dafür da sein.
Jede Sängerin und jeder Sänger müssen für sich herausfinden, was stimmig ist und wie man die Kräfte am besten einteilt.
Dieser Beitrag kann nur eine Anregung sein, der Artikel über die Endproben ist hier
Ich wünsche dir viel kreative Freude bei deiner persönlichen Umsetzung und alles Gute,
Hedwig
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