8. Dezember 2023

VORSINGEN

Ein paar Ideen, wie das nächste besser gelingen könnte...

VORSINGEN

Du hast dich beworben auf ein Opernstudio / eine feste Stelle / einen Platz in einer Agentur / einen Stückvertrag, und – bingo – du wurdest zum Vorsingen eingeladen.
The English version is here

Was jetzt?

3 Sekunden lang Freude und dann „Oh nein, Vorsingen, was, wenn ich’s versemmele!?“

Ich bin mittlerweile zu der (gar nicht überklugen und sehr späten) Einsicht gekommen, dass wir den Vorgang des Vorsingens viel zu sehr isolieren vom Rest des Berufs: Wir üben stundenlang Technik, schaffen uns Repertoire „drauf“, singen Konzerte und vielleicht auch schon Vorstellungen, aber Vorsingen ist etwas, an das wir am liebsten gar nicht denken. Dabei sind Vorsingen ein sehr wichtiger Teil unseres Berufs, werden doch 90% der Jobs über Vorsingen erreicht, zumindest in den ersten zehn Berufsjahren.

Wie kann ich mich vorbereiten?

Dass man perfekt vorbereitet zum Vorsingen erscheint, ist klar. Dazu gehören übrigens auch die gut lesbaren und in der richtigen Reihenfolge zusammengeklebten Noten für die Begleitung.

Davon abgesehen ist, wie so oft, das richtige Mindset superwichtig: wenn ich mich darauf freue, mein Können persönlich zu zeigen, gehe ich positiver ins Vorsingen, als wenn ich mir vorstelle, dass mich sowieso nur „alle“ (die berühmten „alle“!) kritisieren und fertigmachen wollen.

Wisse: auch Theater- und Agentur-Leitungen freuen sich über ein gutes Vorsingen; niemand ist darauf aus, die eigene Mittagspause zu opfern / früher ins Theater zu kommen / später zu gehen, mit dem Ziel, jemanden in Grund und Boden zu reden im Anschluss an das Vorsingen.

Ich glaube nicht, dass es hilft, sich die Kommission in Unterhosen vorzustellen, wie uns vor 40 Jahren manchmal als Tipp mitgegeben wurde, als Mentaltraining noch ein Fremdwort war. Denn dann konzentrieren wir uns wieder nur auf die Kommission, und das ist genau das, was wir nicht wollen. Gutes Mentaltraining kann sehr hilfreich sein. Auf Musiker:innen spezialisiert sind u.a. Petra Keßler und Magdalena Zabanoff (klassische Mentaltrainerinnen) und Sharon Kempton (Success coaching); du findest alle über google.

Wir singen die Arien am besten, die wir schon auf der Bühne gut „gespürt“ haben, bei denen wir genau wissen, warum wir welche Phrase singen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ich meine Vorsing-Arien so vorbereiten muss, dass ich in jedem Moment weiß, welche Emotion die Phrase trägt und woher sie kommt. Je tiefer ich in die Geschichte eintauchen kann, die ich erzählen möchte, desto weniger Platz bleibt für „wilde“ Nerven. Daneben gibt es immer Stellen, bei denen ich technisch kühl bleiben und mich konzentrieren muss – aber das muss man mir nicht unbedingt ansehen. 😉 „Fake it until you make it!“

Nur so nebenbei: Bei Auditions für Tanz bekommen die Kandidat:innen Nummern aufgeklebt, in unserer Sparte geht es immerhin namentlich zu, und auch Fach-fremde Besetzungen wie im Schauspiel sind im Gesang nicht möglich. Wir sind also privilegiert – wer hätte das gedacht!?

Wenn du die eigene Vorbereitungsarbeit für dich abgeschlossen hast, kommt der nächste Schritt, und das ist mein Haupt-Anliegen in diesem Beitrag:

VORSINGEN KANN MAN ÜBEN!

Aber keine Institution hat die Zeit oder die Kapazitäten, ausreichend Zeit für diese „Veranstaltung“ anzusetzen.

Üben mit anderen

Bilde mit 2 Kolleg:innen unterschiedlicher Stimmfächer eine „Peergroup“, die während der nächsten Wochen oder Monate zusammen arbeitet. Ihr organisiert für eine Stunde einen Raum, fragt und entlohnt (!) eine Begleitung  und singt euch gegenseitig vor. Jede/r bekommt 20 Minuten Aufmerksamkeit. Diejenigen, die nicht singen, bilden „die andere Seite“. Keine Angst, dass ihr als Musetta einen Rocco nicht beurteilen könnt und umgekehrt: Ihr werdet sehen, dass das sehr gut funktioniert. Schließlich werden auch Sänger:innen nicht nur von Fachleuten beurteilt und engagiert…

Wie kann die Peergroup aussehen?

  • In der Hochschule: Kommiliton:innen, denen ihr vertraut
  • Im Opernstudio: Mitsänger:innen, denen ihr vertraut
  • Am Theater: Kolleg:innen, die diskret sein können
  • Wenn ihr keiner Institution angehört: Singt Freunden oder der Familie vor. Man muss kein Fachwissen haben, um zu merken, ob die Kommunikation während des Vortrags gut ist.

Vorschlag zum ersten Treffen:

Die Vorsingenden stellen sich wie beim Vorsingen mit Namen vor, singen ihr erste Arie, das „Komitee“ wählt die zweite Arie, evtl. noch ein Stück und entlässt die Kandidatin / den Kandidaten. Erst danach gibt es ein feedback.

Kriterien für feedback sind:

  • Die Qualität der Stimme
  • Intonation
  • Ausgeglichenheit der Register, der Vokale
  • Textverständlichkeit / korrekte Aussprache
  • Phrasierung
  • AUSDRUCK – habe ich mich angesprochen gefühlt? Bin ich beim Gesang geblieben, oder habe ich schnell an etwas anderes gedacht während des Vortrags?

Vorschlag für die Woche drauf:

Nehmt dieselben Stücke (zumindest dasselbe erste Werk) und macht die Vortragenden mit einem kleinen Handzeichen drauf aufmerksam, wenn etwas „stört“, ohne den Vortrag zu unterbrechen. Merkt euch, was es war, kommuniziert es nachher.

Beim dritten Treffen:

Dasselbe Repertoire, Ihr macht nur noch Handzeichen, wenn ihr das Interesse am Vortrag verliert, die Sängerin / der Sänger stoppt und gibt Rückmeldung, ob sie/er das Handzeichen nachvollziehen kann und versucht das Stück mit mehr spannenden Inhalten zu füllen.

Wir wissen alle, dass es mehr Überwindung braucht Menschen vorzusingen, die man gut kennt (warum eigentlich?) als Fremden. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser, aber sehr hilfreich für den Ernstfall. Und ihr werdet schnell merken, worauf es beim Vorsingen eigentlich ankommt.

Natürlich kannst du das mit deiner Gruppe auch anders gestalten, Hauptsache, du
ÜBST VORSINGEN und gewöhnst sich daran, einer kleinen Gruppe von Menschen vorzusingen.

Tag des Vorsingens:

Der Tag des Vorsingens ist da, du hast die genauen Infos erhalten über Uhrzeit, Ort und auch darüber, ob es ein generelles Vorsingen oder ein Vorsingen für eine bestimmte Rolle ist.

Wenn irgend möglich, leiste dir eine Übernachtung vor Ort, damit du in aller Ruhe ankommen, dich im Hotel einsingen und vorbereiten kannst. Wenn du unbedingt am selben Tag reisen musst, lass genügend Puffer – die Verspätungen vor allem bei der deutschen Bahn  machen seit einiger Zeit genaues Planen fast unmöglich.

Stell dich an der Theaterpforte vor, dort sollte man wissen, wo das Vorsingen ist und dir weitere Instruktionen geben.

Kleidung: „normal“ gut, wie zu einer etwas formellen Einladung. Das Kleid / der Anzug sollte deine Figur nicht verstecken, aber auch nicht überbetonen. Vermeide auffällige Muster und großen Schmuck – es geht um dich, nicht um die Deko! Gute Jeans / Chinos und ein gutes Sakko sind auch möglich, es muss nicht der schwarze Anzug sein für die Herren. Hohe Schuhe: wenn du gut drin gehen kannst, sind sie ok, sonst nimm lieber welche mit 4 cm Absatz.

Haare: Lass dein Gesicht möglichst frei. Die Augen sind der Spiegel der Seele, und beim Vorsingen sollten sie nicht durch Haarsträhnen verdeckt sein.

Generelles (informatives) Vorsingen:

Nimm deine 5 besten Arien mit. Sie sollten unterschiedlich im Charakter sein (also auch für lyrische Soprane nicht nur langsame Stücke;) und verschiedene Stile und Sprachen bedienen. In Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz, möchte man gerne Mozart hören (für Mezzi geht auch Gluck:). Beginne mit einer Arie, in der du dich sehr sicher fühlst, den Rest wählt die Kommission.

Vorsingen für eine bestimmte Rolle:

Wenn du aus dem Mozart-Fach schon herausgewachsen bist, möchte man dich wahrscheinlich für eine bestimmte Rolle hören. Von der Rolle, um die es geht, solltest du mindestens eine Arie / eine Szene auswendig vorbereitet haben und den Rest mit Noten singen können. Wenn es um Rollen geht, bei denen es keine Arien gibt (Zauberflöte-Damen, Salome-Juden, Don Carlo-Deputati, Walküren…) dann gilt dasselbe wie beim generellen Vorsingen. Versuche eine Arie zu finden, die zum Charakter der Rolle passt, die gesucht wird

Nach dem Vorsingen: Wenn es über Agentur zustande kam: ruf dort an und sage, wie es aus deiner Sicht gelaufen ist – auch die Agentur hat mitgefiebert.

Auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, dass unser Leben von diesem einen Vorsingen abhängt – ich möchte meinen lieben Kollegen Kim Begley zitieren: „Guys, it’s only opera, not brain surgery“ – das nächste Vorsingen kommt bestimmt!

Viel Spaß mit deiner neuen Peergroup,

Toitoitoi und bis bald,

Hedwig

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