27. Juli 2020

Ich bin Sänger:in – Muss ich jetzt noch einen anderen Beruf erlernen?

Du brauchst keinen neuen Beruf, aber vielleicht eine zusätzliche Perspektive!

Ich bin Sänger:in – Muss ich jetzt noch einen anderen Beruf erlernen?

Als wäre das Studium nicht schon lang und schwierig genug:

Der Stimm-Apparat, der Atem, die Psyche, die Musikalität, der Ausdruck – dauernd steckt man an einer anderen Ecke fest und wenn man nach 6 Jahren (das ist so lang wie ein Medizin-Grundstudium!) endlich einigermaßen sicher auf den Sängerfüßen steht und das Glück hat an einem Theater fest engagiert zu werden, ist man „Anfänger“ mit einem Grundgehalt von 2000€/Monat, brutto wohlgemerkt. Hat man das Glück, noch Konzerte zu singen, kann es gut sein, dass die Konzertgage so hoch ist wie eine Monatsgage in der Oper; aber das kommt nicht so oft vor und man muss immer fragen, ob man frei bekommt im Opernhaus.

Wenn es gut läuft, kann man bald mehr Geld verhandeln/verhandeln lassen, und wenn man freischaffend gut „unterwegs“ ist, klettern die Abendgagen schnell nach oben. Man kann als Sänger richtig Geld verdienen, wenn man Stress-resistent ist, es über Wochen aushält seine Familie nicht zu sehen, die Qualität über Jahre hält oder steigert und nicht gerade ein kompletter Sozialkontakt-Trottel ist. Mit dem verdienten Geld muss man haushalten können, aber sonst: ja, passt!

 

Ein/e freischaffende/r Sänger:in sorgt dafür, dass sie/er ein Polster hat

  • für Schwangerschaft/en,
  • für Krankheit
  • für private Rentenversicherung /Altersvorsorge
  • damit sie eventuelle Ausfälle wegen Überschwemmung, Sturm, Streiks etc. abfedern kann
  • und legt noch Geld zur Seite, weil sie/er weiß, dass es mit über 50 schon wieder weniger wird mit den Engagements und man in den guten Jahren das Maximale herausholen muss. Wie lange „hält“ denn schon ein leichter Sopran, wie lange ein Rossini-Tenor, wenn sich die Stimme eben nicht zum Dramatischen entwickelt?!

Jetzt hat uns Corona gezeigt:

Es gibt in den Theater- und politischen Leitungsebenen Entscheidungsträger, die finden, die gutverdienenden Sänger:innen „hätten doch mal was zurücklegen können“ für schlechte Zeiten. Die (falls überhaupt) Ausfallgagen sind nur ein Bruchteil der vertraglich festgelegten und eingeplanten Gage. Man plant ja sein Leben, richtig? Wenn man mehr verdient, wohnt man in der Regel auch etwas großzügiger. Und wenn man weiß, dass man zwischen März und Juni 40.000 Euro verdient, kann man ein wenig entspannter ins Sommerloch blicken und hoffen, dass für Herbst noch eine Produktion hereinkommt.

Nun bieten etliche Theater (z.B. die Berliner Häuser) 25% an und sagen, selbst das sei schon schwierig gewesen den Geldgebern (in dem Fall einer Stiftung) gegenüber. Dann hat die/der Sänger:in 10.000€, soll sich glücklich schätzen über das Angebot und weiß nicht, wie dieses Geld nun für 6 Monate reichen soll. Was macht man dann? Klar, man greift die Altersvorsorge an – die Folgen „kriegen wir dann später“, darüber machen wir uns jetzt erst einmal keine Gedanken.

Die Mehrzahl der Corona-Hilfsprogramme greift nur für Betriebskosten: davon kann man sich coachen lassen, eine Fortbildung machen oder eine neue Website erstellen. Was aber nützt mir eine Website ohne Termine?! Und die Lebenshaltungskosten sind im Regelfall nicht geeignet für die Hilfsprogramme.

Klar, der Zugang zu AL2 ist erleichtert und man kann mit Wohngeld etc. auf um die 1000€ kommen – falls man kein Vermögen „angehäuft“ hat, denn das wird dann in Abzug gebracht bzw. sorgt für den Ausschluss vom Programm:

Wer gut vorgesorgt hat, hat jetzt das Nachsehen!

Lange Rede kurzer Sinn:

Wir müssen A. kämpfen und B. umdenken; das System lässt einen „Normalo“ nicht ohne Unterstützung, aber das „freischaffend = selber schuld“ geistert durch viele Köpfe…

Das kannst Du jetzt tun:

1. Kämpfen:

Gemeinsam mit den Gruppen von Musiktheater-Menschen, die sich gerade endlich solidarisieren:

Alle diese Gruppen arbeiten hoch motiviert und schließen sich gerade zur International LYRICoalition.

In jedem Land haben die Künstler:innen begonnen mit den Agenturen zusammenzuarbeiten. Ziel ist es, bald mit den Theaterleitern und Politikern um einen runden Tisch zu sitzen und faire Bedingungen für die Freelancer zu etablieren.

Also: geh in die passende Gruppe und wenn es in Deinem Land noch nichts gibt, starte deine eigene Gruppe/Seite.

2. Umdenken:

BRAINSTORMING heißt das etwas überstrapazierte Zauberwort.

Entfache einen Sturm in Deinem Gehirn, der Deine gängigen Denkmuster durcheinander wirbelt! Trau Dich um die 15 Ecken zu denken, die Du Dir sonst verbietest oder für die Du sonst zu bequem bist! Wenn Du gerne schreibst, nimm den berühmten großen Zettel und male eine Mindmap. Wie das geht, findest Du im Internet, z.B. hier: https://www.lernen.net/artikel/mindmap-erstellen-9401/

Das kann dann zum Beispiel so aussehen:

Was kannst Du sonst noch?

Klar, unterrichten ist die nächstliegende Alternative, aber: wenn Du schon 40 bist und noch nie den Drang zum Unterrichten von irgendetwas (zum Beispiel Nachhilfe, Klavierstunden, Yoga oder whatever) hattest, dann ist das vielleicht nicht Dein Ding! Man kann auch ein guter Mensch sein, ohne unterrichten zu wollen:)

Wenn Du gerne unterrichtest, dann schreibe (für Dich selber) ein Unterrichtskonzept und überlege, welche Art von Unterricht Du gibst und welche Art von Lehrer Du bist/sein wirst.

 Fortbildung ist ein Zauberwort

Fernstudium, reguläres Zweit-Studium, Online-Lehrgänge, Wochenend-Seminare.

All das kannst Du auch über die Corona-Hilfen finanzieren.

Coaching ist ein Zauberwort

Lass Dir beim Denken helfen, wenn Du nicht mehr weiterkommst! Eine gute Coaching-Sitzung kann Dir helfen Denk-Blockaden zu lösen. Da musst Du nicht dauernd hin – ein guter Coach hilft Dir in der ersten Sitzung so, dass Du gut alleine weiterdenken kannst.

Auch Coaching kannst Du als Fortbildung deklarieren und mit der Corona-Hilfe finanzieren oder zumindest von der Steuer absetzen.

„Überraschung“ ist auch ein Zauberwort

Schau in ein Gebiet, das Du nicht kennst – wer weiß, was sich dort verbirgt?

„Erinnerungen“ sind auch Zauber

Was hat Dich als Kind fasziniert? Was hast Du als Student:in gerne gemacht?

Fülle Deine Lücken

Du konntest noch nie richtig mit Excel umgehen? Höchste Zeit, das endlich zu lernen!

Klavierspielen kannst Du nur schlecht? Dann fang an zu üben!

Wenn Du in Deutschland singst: Geh endlich in die GDBA!

Sie haben eine Rechtsberatung, auch für Freischaffende. Nach 6 Monaten Wartezeit kannst Du einen Rechtsanwalt in Anspruch nehmen, vorher bekommst Du auch schon Hilfe.

 Du brauchst keinen neuen Beruf, denn Du hast einen Beruf, den Du sehr liebst, aber Du brauchst, wir alle brauchen, eine zusätzliche Perspektive!

 

Viel Spaß beim kreativen Suchen und

bis bald!

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hedwig fassbender
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