29. Oktober 2022

Eine Rolle vorbereiten

Viele Wege führen hier zum Ziel - hier ist meine Methode

Die erste musikalische Probe – Stunde der Wahrheit – wer ist wie vorbereitet?

Da gibt es diejenigen, die alle Töne können und auch sonst so ziemlich alles beachten, das in den Noten steht, es gibt diejenigen, die hier und da noch unsicher sind, und dann gibt es diejenigen, die einfach nur „Boah!“ vorbereitet sind. Da macht jeder gesungene Satz Sinn, auch wenn sie das Stück zum ersten Mal interpretieren…Ich war im Laufe meiner 36 Bühnenjahre in den verschiedenen Kategorien „zu Hause“, aber es war immer ein schönes Gefühl, wenn ich zur letzten Kategorie gehörte. Wir haben alle im Vertrag unterschrieben, dass wir perfekt vorbereitet in die Produktion gehen, aber manchmal gibt es Umstände, die diesen Idealzustand verhindern. Das ist schade, denn die erste musikalische Probe ist die Visitenkarte Freischaffender! Und auch im Festengagement kann gute eigene Vorbereitung nicht schaden.

Wie kommt man dahin?
Das Wichtigste ist, möglichst früh anzufangen. Sobald du weißt, dass du eine Rolle singen wirst, beginne mit der Vorbereitung.

Es geht ein wenig wie mit älteren Kochrezepten, in denen alle Sätze mit „Man nehme…“ anfingen:
Man lese zuerst den ganzen Klavierauszug, damit man weiß, um was es eigentlich geht, wer die anderen Personen sind und in welcher Beziehung die eigene Rolle zu ihnen steht. Es ist hilfreich, kann ganz zu Beginn schon eine Korrepetitionsstunde zu buchen und einmal durch die Partie gehen, damit man besser weiß, was auf einen zukommt.

Struktur der Partie
Es ist sehr hilfreich einen „Fahrplan“ durch das Stück zu erstellen, zum Beispiel:

  1. Akt  Arie xy – Rezitativ – Duett – Ensemble
  2. Akt Ensemble – Ensemble – Arie –
  3. Akt Arie – Rezitativ – Arie – Ensemble

Wenn man diesen Überblick hat, markiere man die technisch schwierigen Teile der Partie und fange an diese Seiten zu „knacken“.

Wenn es eine Arie/ein Ensemble gibt, bei dem man technisch feststeckt, übe man „rückwärts“, d.h. zuerst die letzte Seite, dann die letzten zwei Seiten, die letzten drei etc, bis man alles schafft. Die technisch schwierigen Stellen bringe man zur Gesangsperson des Vertrauens.

Man lerne nach und nach die ganze Rolle.

(Kleiner Tipp für Mozart: man lerne das Schluss-Ensemble zuerst, sonst lernt man’s nie richtig:)

Sekundärliteratur
Parallel versuche man so viel Literatur wie möglich zu lesen über den Komponisten, den Librettisten, deren Zusammenarbeit, die Umstände der Entstehung der Komposition, eventuelle Briefe zu lesen usw.

Aber ich muss gestehen: selbst die klügste Sekundärliteratur half mir persönlich noch nicht, die Rolle so zu „begreifen“, dass ich mit gutem Gefühl in die erste Probe gehen konnte.

Entwicklung der Rolle
Bahnbrechend für mich war, als ich zum ersten Mal auf die Idee kam, einen Lebenslauf der Person, die ich darstellen sollte, zu schreiben. Ich kann das sehr empfehlen! Beantworte dabei Fragen wie:

  • Wie alt ist die Person?
  • Welche Schulbildung hat sie?
  • Wie ist die familiäre Situation der Figur?
  • Wie ist der soziale Status der Figur?
  • Wo lebt sie – auf dem Land oder in der Stadt?
  • Was macht sie beruflich?
  • Was macht die Person besonders gerne?
  • Lebt die Person das Leben, das sie sich vorgestellt hat?
  • Wenn sie heute leben würde, wäre sie dann eher naturverbunden oder eher Technik-fixiert?

Wenn nicht alles aus dem Libretto ersichtlich ist – erfinde den Rest dazu, sodass du ein komplettes Bild deiner Figur hast und sie für dich greifbar wird. Wenn sich dann bei den Proben herausstellt, dass die Regie gewisse Dinge anders sieht, hast du zumindest eine Diskussionsgrundlage oder du kannst deinen Lebenslauf ändern.

Mit der Beschäftigung durch diese Fragen wird die Vorbereitungszeit kurzweiliger, und eh man sich’s versieht, ist die Rolle im Kopf.

Musikalische Vorbereitung
In der Regel fährt man am besten damit, die Vorgaben der Komponist:innen zu beachten und den Angaben genau zu folgen. Genaues Lernen erspart Stress bei den musikalischen Proben. Nimm die Rolle zu einem strengen Korrepetitor / einer strengen Korrepetitor:in und bitte ihn/sie darauf zu achten, dass alles stimmt:

  • Rhythmus
  • Dynamik
  • Diktion (im Italienischen sind die Doppelkonsonanten keine Option, sondern Teil der Sprache, auch die nicht-Doppelkonsonanten:)

Wenn es eine Rolle in einer dir fremden Sprache ist, kannst du eine muttersprachliche Person bitten, dir eine Audio-Datei vom Text zu erstellen und es gegenchecken zu lassen, wenn du fertig bist mit Lernen.

Lernen mit Youtube?
Es ist durchaus sinnvoll, sich zu Beginn der Vorbereitung eine gute Version der Rolle in der Interpretation anderer Kolleg:innen anzuhören, um zu wissen, wie das Orchester klingt.
Dann würde ich empfehlen, ganz lange die Aufnahmen weg zu legen und sich am Notentext zu orientieren, damit die eigene Interpretation entstehen kann. Auf Youtube gibt es viel musikalische Schlamperei… Zum Gegenchecken, ob man die Partie auswendig kann, kann dann wieder das Arbeiten mit einer guten Aufnahme hilfreich sein. Oder man bittet einen Korrepetitor / eine Korrepetitorin, die Klavierbegleitung der Partie einzuspielen und lernt mit dieser Aufnahme die Partie auswendig. Wer selber gut Klavier spielt, bastelt sich seine Vorbereitungs-Aufnahmen selber…

Dein Klavierauszug
Nach spätestens 3 Produktionen mit demselben Stück, war in meinen Klavierauszügen kaum mehr etwas erkennbar. Später habe ich mich diszipliniert und weniger herumgemalt – ging auch.

In der Phase der Orchesterproben habe ich im Laufe der Jahre angefangen mit Post-its zu arbeiten: Beim Abhören der BOs (unbedingt machen!) klebt man kleine Post-it in verschiedenen Farben in den Klavierauszug

Je eine Farbe für

  • Rhythmus
  • Intonation
  • Text

Wenn es dann in der folgenden Probe stimmt, kann man die Post-its wieder wegnehmen und so den Klavierauszug ein wenig schonen

Das alles sind nur Vorschläge, du hast sicher eigene Ideen / Praktiken, Hauptsache, du kommst top-vorbereitet zum Probenstart.

Entwickle dein eigenes System – viel Freude dabei!

Bis bald,

Hedwig

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