10. März 2025

GEFÜHLE / EMOTIONEN

Wie schaffen wir es, dass die Gefühle auf der Bühne uns nicht überrennen?

Gefühle. Emotions

The English version is here 

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Butterfly und Liù bringen sich um, Gilda und Lucia sterben, Lucretia erdolcht sich, Tosca springt in den Tod, Katia geht in den Fluss, Violetta und Mimì sterben an Schwindsucht, Isolde stirbt den Liebestod, Marie und Carmen werden erstochen, Desdemona wird erwürgt, die Küsterin bringt ein Baby um …

Posa und Simone Boccanegra sterben, Lenski wird erschossen, Romeo stirbt durch Gift, Werther erschießt sich, Edgardo kommt um, Manrico wird verbrannt (Toitoitoi beim Verstehen des Trovatore-Librettos!), Seneca vergiftet sich, Otello bringt sich um, Giovanni fährt zur Hölle, auch bei den Herren ist die Liste also lang.

Dann sind da die entsprechenden Gegenparts – die Bühnenmörder:innen. Und, schlimmer noch: die Momente, wo Tote entdeckt werden:

Rigoletto entdeckt seine tote Tochter, Jenufa ihr totes Kind, Azucena realisiert, dass sie unwissentlich ihren eigenen Sohn umgebracht hat (wieder Trovatore…) etc.

Oder die Momente der Rührung: Sieglinde und Siegmund erkennen den jeweils totgeglaubten Zwilling, Idamante den totgeglaubten Vater, Butterfly gibt ihr Kind vor ihrem Freitod in die Obhut Suzukis (das ist der Moment, wo sich das Bühnenkind fragt, was mit diesen Sängerinnen los ist…)

Im Bereich Lied gibt es ungeheuer viele „Triggerlieder“; aber ich kann im Vorfeld entscheidet, ob ich Kindertotenlieder, Allerseelen oder An die Musik „schaffe“ oder nicht.

In der Oper tragen wir diese Zustände während 6-8 Probenwochen an 6-7 Stunden/Tag mit uns herum, und natürlich nagen diese Schicksale und Situationen auch schon während der Vorbereitungszeit an uns.

Sie gehen uns nahe, das ist toll – aber wie schaffen wir es, dass sie uns nicht so nahe gehen, dass die Stimme versagt?

Singen unter Weinen ist schlicht unmöglich, weil die physiologischen Vorgänge beim Weinen dem des Singens diametral entgegenstehen. Dazu gibt es kluge Videos, hier ist eins davon:

What Causes the Lump in the Back of the Throat When We Cry?

Das Video ist sehr informativ und sauber recherchiert. Aber dieses Wissen hilft nicht, wenn das Schluchzen über die sängerische Funktion gewinnt.

Wie kommen wir aus dieser Einbahnstraße wieder heraus?

Wir transportieren durch unsere Stimme und unser Spiel die Emotionen in Musik und Libretto hin zum Publikum. Wenn die Menschen im Publikum angerührt sind, kommt etwas von dieser Emotion wieder zu uns zurück, und die Magie der Oper ist vollkommen. Wir sind nicht dazu da, uns selbst zu rühren! (Das gibt es gratis dazu;)). Um das Publikum zu erreichen, benötigen wir Durchlässigkeit und eine gewisse Distanz zum eigenen Tun.

Während der Probenzeit sind tragische Opernszenen erfahrungsgemäß oft sehr lustig – mit Unterbrechungen zu proben, wie man stirbt oder wie genau technisch man jemanden „abmurkst“ führt oft zu besonders entspannten, sogar albernen Proben. Aber sobald die ersten Durchläufe ohne Unterbrechung kommen, merken wir gut, wo die gefährlichen Momente sind, wo es uns packt und wo die Emotion möglicherweise überhandnimmt.

Was tun?

Es muss uns immer klar sein, weshalb wir auf der Bühne stehen:

  1. Wir SIND nicht diese Personen, sondern wir stellen sie dar. Es hilft, wenn wir uns vor der Probe/der Vorstellung auch innerlich ein Kostüm anziehen bzw. die Emotion im Proben-/Bühnenkostüm verorten, welches wir nach der Probe bzw. der Vorstellung auch wieder ausziehen können, um die Emotionen nicht mit nach Hause zu nehmen. Wenn das Theater keine Probenkostüme bereitstellt, kauf dir etwas Preiswertes und Bequemes, damit die Emotionen mit dem Kostüm ausgezogen werden und im Theater bleiben können.
  2. Wir sollten die Probenzeit gut nutzen, um auszuprobieren, wo unsere emotionale Grenze ist, wie weit wir gehen können, bevor wir nicht mehr weitersingen können. Wichtig ist, unsere Triggerpunkte kennenzulernen, d.h. genau zu wissen, welche Phrase das Weinen auslöst (meist ist es zuverlässig dieselbe) und zu agieren, BEVOR wir die Takte mit den Triggern erreichen, indem wir unsere Emotionen auf Abstand halten. Nur dann können wir als Sänger:innen weiter funktionieren und Emotionen transportieren, ohne darin zu ertrinken. Ist der Triggerpunkt überschritten, sind wir der Emotion hilflos ausgeliefert, schließlich unterstreicht gute Musik noch die „gefährlichen“ Stellen. Puccini ist da besonders gnadenlos, wenn alle Geigen den Sopranpart verdoppeln, sobald die Emotionen hoichfliegen.

Wir sollten in den Proben auch unsere Emotionen (er-)proben!

Wenn wir in der Probe weinen, ist das kein Problem; im Kollegenkreis ist man meist gut aufgehoben und wird aufgefangen. Man kann um eine kurze Pause bitten, einen Moment ‚rausgehen, ein paar kleine Schlucke kaltes Wasser trinken (hilft bei Überstimulierung) und einen neuen Versuch starten.

Vielleicht schaffen wir es beim nächsten Durchlauf besser, vielleicht bleiben aber manche Seiten immer gefährlich.
Dann hilft nur Ablenkung, in dem wir uns entweder auf die technischen Schwierigkeiten der Stelle konzentrieren oder FRÜH GENUG anfangen an etwas anderes zu denken – ich fand den Gedanken an die nächste Steuererklärung in der Schlussszene der Küsterin immer äußerst effektiv (Jetzt kann ich’s ja zugeben…)! Für die Eltern unter den Sänger:innen sind auch Gedanken an anstehende Elternabende, Impftermine oder Kindergeburtstage gute Ablenkungsmöglichkeiten. Sind die „schlimmen Seiten“ geschafft, kann es normal weitergehen, aber was ist in unserem Job schon normal?!

Ich wünsche euch super-emotionale Erlebnisse auf der Bühne, bei denen ihr trotzdem die Oberhand behaltet!

Bis bald,

Hedwig

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hedwig fassbender
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